„Unternehmen wollen KI möglichst schnell und umfassend umsetzen“

Die Chemiebranche war bei Künstlicher Intelligenz lange vergleichsweise zurückhaltend. Doch nun herrscht Aufbruchstimmung – daran hat auch der Hype um ChatGPT einen Anteil.

Von Steffen Ermisch

Sie beantwortet Wissensfragen, greift Programmierern unter die Arme – und schreibt Blogeinträge, Essays oder Gedichte: Seit das US-Start-up OpenAI Ende November die Anwendung ChatGPT der Allgemeinheit zugänglich gemacht hat, ist Künstliche Intelligenz (KI) plötzlich omnipräsent. Die faszinierenden Fähigkeiten des Chatbots sind Thema bei Familienfeiern, Abendessen mit Freunden und geschäftlichen Meetings. Kostproben werden in sozialen Netzwerken herumgereicht, in Talkshows und Leitartikeln wird über Chancen und Grenzen von KI debattiert.

Für Nils Janus ein Glücksfall. „ChatGPT hat dem ganzen Thema einen deutlichen Schub gegeben“, sagt der Mathematiker, der beim Leverkusener Polymerhersteller Covestro ein Team von Datenwissenschaftlern leitet und auch für Künstliche Intelligenz zuständig ist. „Vom Management bis zur breiten Belegschaft ist eine große Begeisterung zu spüren.“

KI werde nun nicht mehr als akademische Spielerei wahrgenommen – sondern als etwas, das ganz alltägliche Probleme lösen kann.

Die Aufbruchstimmung, so beobachtet Janus, zieht sich durch die ganze Branche. Einmal jährlich tauschen sich KI-Experten deutscher Chemieunternehmen bei einem Fachkongress aus. Das nächste Treffen finde unter anderen Vorzeichen statt als in den Vorjahren. Eine Befragung von Bitkom Research aus dem Jahr 2020 untermauert das: Nur vier von zehn Chemie- und Pharmaunternehmen gaben damals an, KI aufgeschlossen gegenüberzustehen.

Quelle: Trendstudie "Deutschland lernt KI" von Tata Consultancy Services Deutschland GmbH (TCS) und Bitkom Research GmbH

Die Unternehmen wollen KI nun möglichst schnell und umfassend umsetzen. Vor drei Jahren haben wir noch hauptsächlich über die Herausforderungen gesprochen.

Nils Janus, Director of Data Science bei Covestro AG

Beschleunigte Produktentwicklung

Befördert haben den Sinneswandel auch erfolgreiche Pilotprojekte in der Branche. Vom Risikomanagement über die Buchhaltung und den Materialeinkauf bis zur Arbeitssicherheit und dem Kundenservice: Die Anwendungsgebiete von Künstlicher Intelligenz sind so vielfältig wie die Disziplinen, die unter dem Begriff zusammengefasst werden – dazu zählen etwa die Mustererkennung , das maschinelle Lernen und künstliche neuronale Netze.

Die Grundidee: Statt nur einprogrammierte Regeln und Rechenvorgänge abzuarbeiten, leiten KI-Anwendungen Problemlösungen aus bereits bekannten Daten und Zusammenhängen ab.

So haben der US-Chemiekonzern Dow und sein Entwicklungspartner Microsoft ein Machine-Learning-System mit Daten über Polyester-Schaumstoffe gefüttert. Soll nun ein neues Material mit bestimmten Eigenschaften entwickelt werden, filtern die Algorithmen in Sekundenschnelle aus den vielen Millionen möglichen Kombinationen die erfolgversprechenden heraus. Das begrenzt die Zahl der nötigen Laborexperimente – und soll die Produktentwicklung drastisch beschleunigen. Dow erhofft sich Effizienzgewinne, denn individuell entwickelte Schaumstoffe, etwa für Matratzen- oder Sportschuhersteller, sind dort Kern des Geschäfts. „Keine zwei Kunden kaufen dasselbe Produkt“, sagt David Parrillo, Entwicklungschef der Sparte.

Auch deutsche Chemieunternehmen treiben die Materialforschung mit Künstlicher Intelligenz voran. Entstanden sind in den vergangenen Jahren eine Reihe von Kooperationen mit IT-Konzernen und Universitäten.

So haben Evonik und IBM vor zwei Jahren mitgeteilt, ein neuronales Netz für die Rezeptur neuer Hochleistungskunststoffe aufgebaut zu haben. Die Hoffnung: Entwicklungszeiten sollen von mehreren Jahren auf wenige Monate verkürzt werden. Der Konkurrent BASF arbeitet unter anderem mit Wissenschaftlern der TU Berlin an Machine-Learning-Anwendungen für die Material- und Wirkstoffforschung.

Noch kein flächendeckender Einsatz

Covestro hat sich in Pilotprojekten bisher vor allem auf KI-Anwendungen in der Produktion konzentriert. Ein Aspekt dabei ist die Arbeitssicherheit: So werden nun an einzelnen Standorten testweise die Videostreams der Sicherheitskameras automatisch ausgewertet. Dank Musterkennung kann das Computersystem bei ungewöhnlichen Vorgängen verlässlich Alarm schlagen – etwa wenn sich ein Arbeiter verletzt hat und Hilfe benötigt.

Ein anderes Anwendungsfeld im Produktionsumfeld hat der Konzern bei der Polyester-Herstellung in Dormagen erprobt: Dort schlägt Künstliche Intelligenz fortlaufend Optimierungen an Produktionsparametern wie dem Druck, der Temperatur und der Dosierungsgeschwindigkeit vor. Das wirtschaftliche Potenzial sei groß, sagt Datenwissenschaftler Janus.

„Minimale Änderungen können dazu führen, dass in den Anlagen beim selben Energieeinsatz deutlich höhere Mengen produziert werden können.“

Die Ergebnisse der Pilotversuche hätten sich konzernintern schnell herumgesprochen: „Es kommen nun immer mehr Betriebsleiter auf uns zu.“

Doch auf dem Weg zum flächendeckenden Einsatz gibt es bei aller neuen KI-Euphorie auch Hürden. Denn bevor die Systeme hilfreiche Ergebnisse produzieren, müssen sie trainiert werden. Covestro hat dazu eine eigene Datenplattform aufgebaut, die sorgsam gepflegt werden will. Auch die Entwicklung der Anwendungen selbst ist aufwendig. Die Datenwissenschaftler müssen dabei eng mit Fachexperten wie Prozessingenieuren zusammenarbeiten. Eine fertige IT-Lösung einzukaufen sei wenig erfolgversprechend, sagt Janus.

Das eine Universalmodell, das auf alle unsere Anlagen passt, gibt es nicht.

Digitale Helfer an jedem Arbeitsplatz

Eine weitere Herausforderung: Mit der Digitalisierung im Allgemeinen und Künstlicher Intelligenz im Speziellen ändern sich gewohnte Arbeitsabläufe. Experten warnen, dass viele Beschäftigte abgehängt werden könnten – oder ihre Arbeitsplätze ganz den Algorithmen weichen müssten.

Spielregen für den KI-Einsatz in der Branche will das Forschungsprojekt „Humanzentrierte Künstliche Intelligenz in der chemischen Industrie“ erarbeiten. Beteiligt daran sind Unis, Arbeitgeber, Gewerkschaften sowie einzelne Unternehmen der Branche.

Ziel müsse „eine ergänzende Intelligenz“ sein, „die die Beschäftigten nicht ersetzt“, sondern menschliche Fähigkeiten erweitere, heißt es in einem Handlungsleitfaden . Dafür müssten zukünftig benötigte Qualifikationen frühzeitig identifiziert werden und Mitarbeiter entsprechend geschult werden. Die Forscher betonten zudem, dass KI-Ergebnisse für die menschlichen Experten nachvollziehbar sein müssen: „Eine transparente KI bietet den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen Überblick über die Schritte, die sie durchführt, und legt zudem Gründe für Entscheidungsvorschläge offen.“

Unsere Vision ist, jedem Mitarbeiter einen persönlichen virtuellen Assistenten zur Verfügung zu stellen.

Covestro-Manager Janus betont, das Ziel sei nicht, Menschen zu ersetzen: „Es geht darum, deren Arbeit substanziell zu erleichtern.“ Bisher, so räumt der Experte ein, seien zwar erst wenige Mitarbeiter mit KI überhaupt in Berührung gekommen. Doch das ändert sich Schritt für Schritt: Einen ersten intelligenten Chatbot namens „Coby“ gibt es unternehmensintern bereits, er hilft bei IT-Fragen.

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